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Mitbestimmen geht nicht nur bei der Piratenpartei. Der Landkreis Friesland nutzt ab heute als erste Kommune die Software Liquid Feedback, um Bürger zu beteiligen.

Der Landkreis Friesland versucht einen neuen Weg, um Bürger an der lokalen Politik zu beteiligen. Am heutigen Freitagabend startet Liquid Friesland, das klingt nicht nur wie die Abstimmungssoftware der Piratenpartei, sie ist es auch. Die Entwickler von Liquid Feedback haben das Programm an die Bedürfnisse der Kommune angepasst.

"Eigentlich", sagt Andreas Nitsche, "haben wir anfangs gar nicht an Bürgerbeteiligung gedacht, als wir Liquid Feedback entwarfen." Es sei als Instrument für Organisationen und Parteien geplant gewesen. Nitsche ist einer der Entwickler und klingt durchaus zufrieden mit der neuen Kooperation, denn ist sie ganz im ursprünglichen Sinne der Idee "flüssige Demokratie".

Liquid Feedback ist eine Software. Mit ihr kann jeder angemeldete Nutzer politische Entscheidungen beeinflussen, indem er mitdiskutiert, indem er seine Stimme abgibt oder indem er selbst Anträge schreibt und Unterstützer für seine Position sucht. Das ist der eine Weg der Kommunikation: von unten nach oben.

Meinungsbild einholen

Bei Liquid Friesland (hier die Projektbeschreibung) ist aber noch ein zweiter Weg fest installiert, der von oben nach unten. Alle Anträge des Kreistages Jever werden bei Liquid Friesland veröffentlicht - bevor sie im Kreistag dann abgestimmt werden. Die Bürger haben also Zeit, ihre Meinung dazu zu sagen.

Bei den Piraten gibt es diesen Weg auch. Immer wieder stellen Politiker ihre Pläne im Liquid Feedback zur Diskussion. Doch ist das kein Automatismus, nicht jeder Antrag der Parteiführung wird von der Basis debattiert. In Friesland ist es hingegen Prinzip.

"Wir erhalten dadurch ein Meinungsbild", sagt Sönke Klug, der Sprecher der Kreisverwaltung. Für die Politik sei das ein großer Vorteil, erfahre sie doch, was die Menschen von ihren Plänen halten. "Wir können ja nicht jedes Mal Forsa beauftragen, wenn wir wissen wollen, ob ein Antrag befürwortet oder abgelehnt wird", sagt Klug.

Mehr Beteiligung erlaubt die Verfassung so nicht

Bindend ist das Meinungsbild nicht. Die Abgeordneten müssen sich nicht daran halten, wenn sie im Kreistag über einen Antrag abstimmen. Man könne eben nur so viel Beteiligung möglich machen, wie es die Kommunalverfassung erlaube, sagt Klug. Die aber sieht für politisch bindende Bürgerentscheide bestimmte Hürden vor. Wie bei einer Wahl muss beispielsweise jeder die Möglichkeit haben, mitzumachen. Aber nicht jeder hat einen Computer und einen Netzzugang. "Als die Verfassung formuliert wurde, hat niemand ans Internet gedacht", sagt Klug.

Allerdings hat der Kreistag zugsichert, die Meinungsbilder der Bürger zu beachten und bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Für Nitsche war das eine Bedingung für das Projekt. "Sie haben versprochen, dass sie die Ergebnisse sehr ernst nehmen", sagt er, und dass in Friesland solche Zusagen etwas gelten.

Die Politiker scheinen interessiert an dem Projekt. Die Idee dazu kam auch von ihnen. Landrat Sven Ambrosy hatte Berichte über das Abstimmungsmodell der Piraten gesehen und gelesen und sich gefragt, ob es nicht auch was für Kommunen und Gemeinden sein könnte. Die Abgeordneten fanden das auch. Zweimal wurde abgestimmt, ob es begonnen werden soll, einmal im Landtag und einmal im Kreistag. Beide Entscheidungen fielen einstimmig. Ein Jahr lang soll es nun laufen, 11.400 Euro für Installation und Betreuung sind im Etat veranschlagt.

Friesland ist die erste Kommune, die es versucht. Sie scheint dabei vieles richtig zu machen. "Friesland hat sich glücklicherweise entschieden, die Fragen, die diskutiert werden können, nicht einzuschränken", sagt Nitsche. Jedes Thema könne besprochen, jeder Antrag eingebracht werden. Solche Signale sind wichtig, denn Menschen beteiligen sich nur an Politik, wenn sie das Gefühl haben, mit ihrer Meinung gehört zu werden und etwas verändern zu können.

Wie viele mitmachen, hängt aber auch vom Thema ab. Um gleich zu Beginn für Interesse zu sorgen, hat der Landkreis eines zur Diskussion gestellt, das sicher viele beschäftigt: Blitzer. Sollen die Standorte der Geschwindigkeitskontrollen jeden Tag angekündigt werden? Oder lieber nicht, um effektiver den Verkehr zu beruhigen? Die Bürger können ab Freitag 17 Uhr darüber abstimmen.

Stimmen können übertragen werden

Die in Friesland verwendete Software ist die gleiche wie bei der Piratenpartei. Allerdings hat der Landkreis sich ein paar Änderungen erbeten. Bei der Anmeldung beispielsweise. Wer mitmachen möchte, gibt seine Daten in der Maske ein und bekommt dann einen Brief nach Hause geschickt, indem der Zugangscode steht. Erst mit diesem Code kann der Account eingerichtet werden. Schließlich sollen nicht alle dabei mitmachen, sondern nur die 100.000 Bewohner der Region. Daher werden die Namen der Nutzer auch in regelmäßigen Abständen mit dem Melderegister des Landkreises verglichen - wer nicht dort wohnt, kann nicht mitmachen, wer wegzieht, wird gesperrt. Anonym kann daher niemand mitmachen.

Wie bei den Piraten können die Nutzer ihre Stimme aber delegieren - also nicht selbst abstimmen, sondern jemand anderem ihre Stimme übertragen. Der kann sie bei einer Abstimmung einsetzen oder sie weiter an einen Dritten übertragen.

Bei den Piraten hat das dazu geführt, dass es Superdelegierte gibt, die viele Stimmen und damit großen Einfluss repräsentieren. Das sorgt in der Partei immer wieder für Debatten und für Versuche, das Stimmenübertragen zu begrenzen.

Zusätzlicher Kanal, nicht das Allheilmittel

In Friesland hat man davor keine Angst. Letztlich bilde das ja nur die Realität ab, sagt Klug. Schließlich könne eine Bürgerinitiative auch 200 Unterschriften sammeln und sie dem Kreistag präsentieren. "Das sind demokratische Prozesse, die schon längst geübt werden."

Allerdings führt nicht zuletzt diese Möglichkeit zu Überforderung. Wer sich neu anmeldet, der kann kaum überblicken, welchen Einfluss er wo geltend machen kann. Er muss herausbekommen, wo er seine Stimme wie einsetzen muss, um etwas zu erreichen. Vielleicht gibt es ja schon einen gut formulierten Antrag zum Thema neue Radwege. Es könnte also sinnvoller sein, diesen zu unterstützen, statt einen neuen zu schreiben. Das in Erfahrung zu bringen und abzuwägen, ist mühsam.

Demokratie ist anstrengend, wer mitmachen will, muss sich damit beschäftigen. Das ist auch bei Liquid Friesland nicht anders. Allerdings gibt es mehr Hilfe als bei den Piraten. In Friesland finanziert die Kommune Kurse an der Volkshochschule für diejenigen, die sich das System anschauen wollen.

Es werden sich trotzdem nicht alle dafür interessieren. Aber auch darüber hat man sich in Jever Gedanken gemacht. Liquid Friesland sei "ein zusätzlicher Kanal für Beteiligung", sagt Klug. Es solle nicht "die neue und mithin einzige Möglichkeit sein, mit der Politik zu kommunizieren". Es sei daher auch nicht so wichtig, ob das Ganze repräsentativ sei, man wolle vor allem eine Möglichkeit schaffen, Menschen einzuladen, die sich auf herkömmlichen Wegen vielleicht nicht beteiligen. "Es geht darum, eine bestehende Chance nicht ungenutzt zu lassen", sagt Klug.

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Autor(en)/Author(s): Kai Biermann

Quelle/Source: Golem, 09.11.2012

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