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Freitag, 3.05.2024
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Ein einmaliger Reformentwurf (ver)endet im Parteiengestrüpp

Es war die Idee von der größten Verwaltungsreform in der Geschichte des Landes. Nicht nur Landkreise sollen zusammengelegt, sondern auch die Landesaufgaben von gut 60 Behörden der Ministerien an die Kreise verlagert werden. Die Regierung des Flächenlandes Mecklenburg-Vorpommern kann sich nämlich eine teure Verwaltung längst nicht mehr leisten. Doch der Politik fehlt der Mut zu Veränderungen. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr ging Innenminister Gottfried Timm mit seiner großen Idee an die Öffentlichkeit. In unserer Zeitung verkündete er damals das einmalige Reformprojekt: Mit einer in der Bundesrepublik nicht gekannten Konsequenz sollten zahlreiche Aufgaben der 200 Ämter in den 60 Landesbehörden an die Landkreise übertragen werden. Diese sollten ob der großen Aufgaben neue größere Strukturen bekommen. Der Gedanke schien einleuchtend.

Timm damals zur Begründung: "Alles, was wir bei der Verwaltung sparen, kommt den Bürgern und der Wirtschaft direkt zugute. Derzeit sind bereits die Hälfte aller Haushalte der Kreise und kreisfreien Städte nicht mehr ausgeglichen. Mit einer umfassenden Entbürokratisierung und Verschlankung der Verwaltung könnte man einen Entwicklungsschub für unser Land organisieren."

18 Leitz-Ordner umsonst?

Inzwischen füllen 18 Leitz-Ordner allein das Büro des Geschäftsführers des Landkreistages Hubert Meyer, es gibt einen Landtagsausschuss zur Verwaltungsreform, eine Interministerielle Arbeitsgruppe, die sich bereits wieder aufgelöst hat, eine Lenkungsgruppe und eine Deregulierungskommission. Ideen sprudeln, Konflikte entstehen, im Kabinett von Harald Ringstorff (SPD) tobt hinter den Kulissen der Kampf zwischen Reformbefürwortern und Reformgegnern. Timm hatte zu Beginn der Reformdebatte gesagt: "Wahrscheinlich haben diejenigen Recht, die sagen, dass eine Verwaltung von sich aus nicht reformfähig ist." Er hat sich geirrt. Die Verwaltung will die Reform - die Politik verhindert sie.

Reformunlust regiert

Beispiel 1: Der Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe von Minister Timm

Kommunale Spitzenverbände und Ministerien durchforsteten ein halbes Jahr lang Ministerium für Ministerium nach Aufgaben, die auf die Kreise verlagert werden könnten. 57 Seiten umfasste der Zwischenbericht, der im August vorgelegt wurde. Rund 16000 der nahezu 45 000 Stellen im Landesdienst sollten verlagert werden. Im Kabinett wurde das Gros wieder zu den Ministerien zurückgeholt. Selbst Vorschläge aus der Verwaltung, wie die Überführung der Lehrer und Schulämter schrittweise in kommunale Trägerschaft, die Verlagerung von Planung und Bau der Bundes- und Landesstraßen auf die Kreise, oder Verlagerung der Ämter für Arbeitsschutz und technische Sicherheit mit 150 Stellen scheiterte an den Voten der betroffenen Minister - ob Wirtschaftsminister Otto Ebnet (SPD) und Sozialministerin Marianne Linke (PDS), niemand will Einfluss und Macht abgeben. Ergebnis: 1500 Stellen könnten an die Kreise abgegeben werden. Die Arbeit wurde beendet.

Punkt 2: Der Bericht der Deregulierungskommission von Justizminister Erwin Sellering (SPD)

Ziel war es, alle jene Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften herauszufiltern, die nicht mehr benötigt werden. Bürokratieabbau als Fleißarbeit, an deren Ende 4381 gefundene Landesgesetze und Verordnungen standen. Gerade mal 43 könnten nach Meinung der Ministerien sofort gestrichen werden. Eine gemeinsame Normprüfstelle von Staatskanzlei, Innenministerium und Finanzministerium für alle Gesetze und Verordnungen, wie von der Kommission vorgeschlagen, wurde vom Kabinett abgelehnt. Die Ministerien sollen selbstständig auf 30 Prozent ihrer Verordnungen verzichten.

Punkt 3: Die Gebietsreform

Auf Betreiben des Koalitionspartners PDS wurde das ursprüngliche Vier-Kreise-Modell völlig aus der Debatte verbannt. Möglicher Grund: Die PDS stellt in zwei existenzbedrohten Kreisen die Landräte. Auf die Vierer-Struktur waren aber alle Vorschläge bis zum Sommer ausgerichtet. Ein Thesenpapier aus dem Bau- und Planungsministerium von PDS-Minister Holter geht von verschiedensten Varianten aus - bis hin zu zwölf Kreisen. "Völlig inakzeptabel", so der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindetages Michael Thomalla. Am 4. November will das Kabinett entscheiden.

Debatte in Hinterzimmern

Dort, wo niemandem weh getan wird, zum Beispiel bei der Einführung eines vernetzten Landesinformationssystems zwischen Kommunen, Kreisen und Ministerien, hingegen kommt man gut voran. Für das eGovernment wurden in diesem Monat Beschlüsse gefasst. Auch der Zusammenschluss der Gemeindeämter funktioniert. Innenminister Timm rechnet mit einer Reduzierung von 170 auf 120 Ämter. Dort läuft die Reform.

Für die künftige Kreisstruktur jedoch gibt es derzeit nur Hinterzimmerdebatten. Ob im Innenministerium, in den Kommunalverbänden oder im Landtagsausschuss unter Leitung von Heinz Müller (SPD) - überall diskutiert man über vier große kommunale Zweckverbände, in denen die Kreise überregionale Aufgaben gemeinsam organisieren könnten, so

  • eine künftige Berufsschullandschaft,
  • den öffentlichen Personennahverkehr,
  • den Kultur-, Theater- und Freizeitbereich,
  • die Sparkassenlandschaft,
  • das Rettungswesen.
Selbst Innenminister Timm, so ist zu hören, hofft inzwischen, dass wenigstens diese Minimalvariante bleibt. Der Hintergedanke: Es könnte zu einer automatischen Aufgabenentleerung der Landkreise nach oben kommen. Ein Vehikel - mehr nicht.

Das bedeutet aber, dass die Kreise wie bisher bestehen bleiben - und über ihnen eine neue Ebene entsteht, anstatt wie geplant eine Ebene abzuschaffen. Das bedeutet gleichzeitig, dass alle mittleren und unteren Landesbehörden beim Land bleiben:

  • Schulämter, Umweltämter, Landwirtschaftsämter, Polizeiinspektionen.
Ergebnis: Es wird keine einzige Landesaufgabe abgegeben.

In ihrem Zukunftsbericht hat Finanzministerin Sigrid Keler bei der Haushaltsklausur der SPD-Fraktion ein Schreckensszenario gemalt: Nach 2010 ist das Land nicht mehr in der Lage, seine Verwaltung zu bezahlen. Wenn nicht jetzt Aufgaben an die Kreise übertragen werden, stellt sich dann die Frage nach dem Nordstaat. MV wird möglicherweise aus Hamburg verwaltet.

Es geht um das Überleben des Landes, nicht um kurzfristiges politisches Taktieren.

Drei Gründe für die Reform

  • Bevölkerungsentwicklung

    1990 zählte das Land 1,96 Millionen Einwohner, 2020 werden es 1,6 Millionen sein; je Einwohner verliert das Land 2100 Euro;

  • Finanzsituation

    Mecklenburg-Vorpommern hat durch EU- und Bundessubventionen zwei Milliarden Euro (42 Prozent) mehr Einnahmen als westliche Länder, aber inzwischen 1,5 Milliarden Euro mehr Schulden als im Durchschnitt der alten Länder (8,7 Mrd.Euro);

  • Personal in der Verwaltung

    Mit 25,4 Personalstellen je 1000 Einwohner hat MV den höchsten Stellenbestand aller Flächenländer; obwohl die Zahl der Stellen von 57000 auf 45000 zurückgegangen ist, stieg der Anteil von Personalkosten am Landeshaushalt seit 1991 von 22,4% auf 27,3%;

Zitate

"In erster Linie geht es ja gerade um eine Entbürokratisierung in der Landesverwaltung. Alle Aufgaben, die nicht vom Land selbst wahrgenommen werden müssen, sollen auf die neuen Landkreise übertragen werden." Gottfried Timm, SVZ, 9. Oktober 2002

"Die Verwaltungsreform ist eine gewaltige aber notwendige Aufgabe. Wenn sie gelingt, wird Mecklenburg-Vorpommern die modernste Verwaltung Deutschlands haben. Das ist ein Ziel, für das es sich lohnt, parteiübergreifend zusammenzuarbeiten." Harald Ringstorff, SVZ, 12. Dezember 2002, Regierungserklärung

"Es geht nicht um die kleinen Aufgaben, die wir locker übernehmen könnten. Die Landesregierung muss Farbe bekennen, ob sie Verwaltung an die Kreise abgeben will." Hubert Meyer, Landkreistag, SVZ, 7. Februar 2003

"Ich kenne keine Verwaltungsreform, die so geendet hat, wie sie angedacht war." Arnold Schoenenburg (PDS), SVZ, 14. Mai 2003

Diskussion um Behörden

Rund 60 Landesbehörden existieren zwischen Ministerien und Gemeinden. Eine Reihe davon sollten auf den Prüfstand, ihre Aufgaben könnten an die Kreise und Ämter verlagert werden, zum Beispiel:

  • Obere Landesbehörden
    • Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesvermessungsamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen
    • Landesamt für Straßenbau und Verkehr
    • Landesamt für Fischerei Mecklenburg-Vorpommern
    • Landespflanzenschutzamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesveterinär- und Lebensmitteluntersuchungsamt
    • Landesjugendamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesversorgungsamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Arzneimittelüberwachungs- und -prüfstelle
    • Landesprüfungsamt für Heilberufe Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesgesundheitsamt Mecklenburg-Vorpommern
    • Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie

  • Untere Landesbehörden
    • 4 Straßenbauämter
    • 4 Eichämter
    • 5 Seemannsämter
    • 6 Ämter für Landwirtschaft
    • 33 Forstämter
    • 3 Nationalparkämter
    • 4 Schulämter
    • 4 Ämter für Raumordnung und Landesplanung
    • 4 Ämter für Arbeitsschutz und technische Sicherheit - Gewerbeaufsicht -
    • 4 Versorgungsämter
    • 6 Staatliche Ämter für Umwelt und Natur
Quelle: SVZ online
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